Sektion Raum / Kultur in der KWG

Bildschirmfoto 2015-11-15 um 13.33.32Spätestens mit dem Spatial und dem Topographical Turn ist seit den 1980er Jahren die Kategorie Raum in den Fokus der Geistes- und Sozialwissenschaften und vor allem auch der Kulturwissenschaft gerückt. Seitdem ist Raum nicht nur in den einzelnen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen zu einer zentralen Analysekategorie geworden, sondern auch zu einem Kernthema der transdisziplinären Forschung in der deutschsprachigen wie der internationalen Kulturwissenschaft. Die Sektion Raum / Kultur in der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft greift diese Entwicklung auf, um die spezifisch kulturwissenschaftlichen Aspekte der Raumforschung zu untersuchen und der inter- und transdisziplinären Untersuchung der Bedeutung von Raum für Kultur und von Kultur für Raum ein Forum zu geben. Die Sektion möchte damit einen Beitrag zur transdisziplinären Weiterentwicklung theoretischer, methodischer und inhaltlicher Ansätze und Fragestellungen eines spezifisch kulturwissenschaftlich verstandenen Raumbegriffes liefern.

Zentraler Ansatzpunkt der Sektion Raum / Kultur ist die Prämisse, dass sich Raum und Kultur wechselseitig konstituieren, d.h. dass auf der einen Seite der physische und repräsentierte Raum entscheidenden Einfluss auf die Entstehung und Entwicklung von Kulturen hat und dass auf der anderen Seite kulturelle Gruppierungen den materiellen und imaginierten Raum fundamental prägen. Die Sektion Raum / Kultur möchte in diesem Kontext einen entscheidenden Beitrag zur Definition und Weiterentwicklung eines genuin kulturwissenschaftlichen Raumbegriffes leisten. Dazu strebt die Sektion auf der Basis inter- und transdisziplinärer theoretischer Diskussionen und inhaltlicher Analysen des Feldes Raum / Kultur eine möglichst breite Diskussion über die Position und die Bedeutung der Kategorie Raum in den Kulturwissenschaften an. Das schließt selbstverständlich die Untersuchung von sowohl historischen Verhandlungen als auch von gegenwärtigen Prozessen der wechselseitigen Konstitution von Raum und Kultur als komplexe Kategorien in ihrer materiellen und medial vermittelten Dimension ein. Konkrete Schwerpunkte der Sektion liegen nach derzeitigem Stand in der kulturwissenschaftlichen Untersuchung folgender Bereiche:

  • diskursive, mediale und kulturelle Konstruktionen von Räumen als Räume für spezifische kulturelle Identitäten
  • kulturelle Praktiken der materiellen und diskursiven Raumaneignung aus dominanter und subversiver Perspektive
  • konstruierter und vorgefundener Raum als kulturelle Performanzfläche und die Möglichkeiten der Performanz von Raum
  • Relationalität von Raum und Kultur
  • Strategien und Praktiken der Entgrenzungen und Grenzziehungen in den Bereichen Raum und Kultur.

Die theoretische und inhaltliche Reflektion der genannten Bereiche soll grundsätzlich und bezugnehmend auf die disziplinäre und nationale Verortung der Sektionsmitglieder mit einer nicht nur inter- und transdisziplinären Perspektive erfolgen, sondern auch eine inter- und transnationale Komponente beinhalten. Diese Reflektion beruht darüber hinaus auf mehreren Grundprämissen. So wird der Topos Raum nicht in Opposition zur Kategorie Zeit gesehen, sondern beide werden als grundsätzlich verschränkt und sich gegenseitig beeinflussend betrachtet. Diese Betrachtung geschieht z.B. in der diachronen Untersuchung von kulturellen Raumkonstitutionen (z.B. des Einflusses von kulturellen Masternarratives in Prozessen der Gentrifizierung oder der urbanen Schrumpfung), in der Analyse von ungleichen und ungleichzeitigen Entwicklungen von Räumen (z.B. Globalisierungsprozesse), oder mit dem Bachtinschen Konzept des Chronotopos zur Beschreibung von historisch spezifischen Zeit-und- Raum-Beziehungen in kulturellen Praktiken (z.B. Literatur und Film). Darüber hinaus wird Raum stets sowohl als materieller und real lebensweltlich erfahrbarer als auch als repräsentierter und damit kulturell codierter Raum gedacht. Beide räumlichen Ebenen spielen nicht nur für kulturelle Konstitutionen von z.B. sozialen Gruppen, sondern auch für die Konstruktion und Etablie- rung von imaginiertem Raum wie z.B. spezifischen Stadtteilimages eine zentrale Rolle, und müssen in einer kulturwissenschaftlichen Raumkonzeption gemeinsam berücksichtigt werden. Damit ist auch die methodische Breite der Sektionsarbeit beschrieben, die sich von empirischen sozialwissenschaftlichen Erhebungen über raumkonstituierende Kulturpraktiken bis zur Analyse von raumbildenden Medien wie Stadtplanung, Architektur, Mode, Feste, Essen, Musik, Skulptur, Malerei, Photographie, Film, Literatur und nichtfiktionalen Texte erstreckt.

Diese Methoden, Prämissen und Grundkonstellationen der Sektion Raum / Kultur basieren immer auf kulturwissenschaftlichen Konzeptionen und Denkweisen von Raum, die in Relation zu den verschiedenen Fachdisziplinen stehen. Wichtige anthropologische Raumkonzepte sind u.a. die Beschreibung und Analyse von Orten und Nicht-Orten (Augé), die Beschäftigung mit dem spezifischen Verhältnis von Raum und Zeit oder die Auseinandersetzung mit der Idee von Zwischenräumen. Die Soziologie etwa versteht den Raum u.a. als sozialen Handlungsraum im Sinne einer Bühne, während sich die Geschichtswissenschaft vor allem mit Orten und der an ihnen sich verdichtenden Geschichte im Sinne einer Topographie auseinandersetzt. Die Literatur- und Medienwissenschaften wiederum fokussieren auf die kulturelle Konstitution und Repräsentation von Räumen. Die Stärke der kulturwissenschaftlichen Perspektive ist es, diese unterschiedlichen Positionen zu beleuchten und in ihren Gemeinsamkeiten aber insbesondere in ihren Unterschieden zu analysieren. Der Titel Raum / Kultur verdeutlicht so gleichermaßen sowohl das Sujet der Sektion als auch seine Sichtweise.

Inhalte:

Grundsätzlich ist die Sektion Raum / Kultur offen für alle raumidentitären Fragestellungen kulturwissenschaftlichen Inhaltes. Besonders vielversprechend scheinen jedoch folgende Aspekte, die zugleich die (vorläufigen) Schwerpunkte der Sektionsarbeit markieren sollen:

  • Die Beschreibung und Analyse der wechselseitigen Konstitution von Kultur(en) und Räumen, die durch den Einfluss von Macht geprägt sind. Dazu gehören sowohl die Ausübung und Erfahrung von sozialer und institutioneller Gewalt in physischen Räumen als auch Versuche der Aneignung, Kontrolle und Konstruktion des materiellen und repräsentierten Raumes durch patriarchale, ökonomische, ethnische oder politische Ideologien. So sind beispielsweise sowohl Architektur als auch Kartographien immer machtdurchzogene Räume der Etablierung und der Selbstvergewisserung von individuellen, kulturellen und sozialen Identitäten. Dies wird v.a. bei ideologisch besetzten Räumen bzw. Raumvorstellungen wie „Heimat“ oder „Natur“ deutlich. Häufig wird physischer und repräsentierter Raum so zu einem Ort, der nicht nur von Machtinteressen, sondern auch von der damit oft einhergehen Differenzierung zwischen Eigenem und Fremden geprägt ist. Relevant für die Untersuchung der dominanten wechselseitigen Konstruktion von Räumen und Kultur(en) ist aber gleichzeitig vor allem auch die Beschäftigung mit dem Scheitern der gebauten und repräsentierten Machträume durch soziale Kontingenzen, subversive kulturelle Praktiken oder aktive Widerstände. Ebenso bedeutend sind die Kritik und Unterwanderung ideologisch durchdrungener Machträume und Raumrepräsentationen sowohl durch gegenläufige (sub-)kulturelle Praktiken und Nutzungen von Raum als auch durch die Produktion und Verbreitung von kulturellen Gegenbildern.
  • Die Analyse von sozialen und kulturellen Entwicklungen in marginalen, peripheren und liminalen Räumen: Entgegen der lange Zeit vorherrschenden Fokussierung auf räumliche, und damit politische, soziale und kulturelle, Zentren und deren Bedeutung für den Versuch, homogene und abgegrenzte Kulturen zu konstituieren, möchte das Forschungsnetzwerk den Blick auf Grenzräume und Übergangsräume richten. Marginale und periphere Räume sind oft Orte der Konstitution und Verhandlung von alternativen, hybriden, und vielschichtigen offenen und komplexen Identitäten im Austausch mit und in der Abgrenzung von dominanten Raumkonzepten. Dazu zählen ethnisch, sozial, geschlechtlich, sexuell, religiös oder körperlich marginalisierte Gruppen, die bestimmte physische oder mediale Räume zur Konstitution beanspruchen und zur Durchsetzung verschiedener Rechte nutzen. Ein solcher Fokus schließt notwendigerweise auch die wechselseitige Bedingung (selbst-)marginalisierter und dominanter Räume und Raumnutzungen ein (vgl. das Foucaultsche Konzept der Heterotopie).
  • Die Betonung der Bedeutung von raumüberspannenden Netzwerken für kulturelle und soziale Prozesse der Konstitution und -konstruktion von Gruppen und Räumen: Angesichts von Globalisierungsprozessen und der damit einhergehenden Migration von Menschen, (kulturellen) Produkten und Informationen muss Raum als flexibler und komplexer Verhandlungsort von translokalen und transnationalen Identitäten begriffen werden. Raum wird so nicht nur relational in seinen vielschichtigen, überlappenden und konkurrierenden geographischen Bezügen, sondern auch sozial, ökonomisch und kulturell dynamisiert. Damit gerät translokal und transnational gedachter und gelebter Raum allerdings auch in ein Spannungsverhältnis mit sozialen und kulturellen Gruppen, deren raumbasierte Identitätskonstitutionen auf Fixiertheit und Abgrenzung beruhen.

Ziele und Sektionsarbeit:

Da wir Raum vor allem als zentralen Verhandlungsort von Kultur verstehen, erscheint uns neben der eigenständigen Arbeit in der Sektion Raum / Kultur auch die Interaktion und Kooperation mit anderen Sektionen inhaltlich und methodisch sinnvoll. Eine besondere Nähe erkennen wir dabei zu folgenden Sektionen:

  • Material und Kultur
  • Kulturwissenschaftliche Ästhetik
  • Sprache und kommunikative Praktiken
  • Transkulturelle Lebenswelten

Dabei geht es vor allem darum, konkrete Planungen in Richtung künftiger und weiterer möglicher Forschungsfelder aufzustellen. Neben einem Schwerpunkt in der Sektionsarbeit auf dem städtischen Raum als besonders konzentrierten und dynamischen Raum für die Verhandlung und Konstitution von Kultur, wird ein weiterer Fokus auf nationalen und kulturellen Grenzräumen liegen ebenso wie auf abstrakten Raumkonzeptionen wie „Heimat“ und „Fremde“ oder räumlichen Parallelitäten und Differenzen.

Diese Perspektiven beinhalten zahlreiche Möglichkeiten eines interdisziplinären Austauschs über den gelebten und diskursiven Raum. Die Vielfalt der Disziplinen, die sich mit dem genannten Aspekten auseinandersetzen, reicht von der Literaturwissenschaft, der Geschichtswissenschaft und der Kommunikationswissenschaft über die Historische Anthropologie, Europäische Ethnologie, Human- und Kulturgeographie und Soziologie bis zur Architektur und ganz allgemein den Kultur- und Kunstwissenschaften. Trotz unterschiedlicher Schwerpunkte werden diese Fächer durch vielfältige gemeinsame theoretische und methodische Ansätze in der Erfor- schung von Raum und Kultur geeint. Geeignete geistes- und sozialwissenschaftliche Methoden der Beschreibung und Analyse von z.B. urbanen und vom Menschen gestalteten Räumen in ihrer Materialität wie ihrer Repräsentation sind u.a. die Phänomenologie, Semiotik, Diskursanalyse, sowie die Spaziergangswissenschaft bzw. das sogenannte „nosing around“ der Großstadtforschung.

Die konkrete Arbeit der Sektion Raum / Kultur soll, abgesehen von den jährlichen Treffen im Rahmen der Kongresse der KWG, zunächst in Form von thematisch enger gefassten Workshops stattfinden, deren Ziel der interdisziplinäre Austausch über die Forschungsschwerpunkte und die theoretischen und methodischen Ansätzen der Mitglieder ist. Ein erster Workshop wird im Juni 2016 zum Thema Räume / Grenzen / Identitäten an der Universität Flensburg stattfinden. Dieser Titel knüpft nicht nur an zentrale Aspekte der Sektion an, sondern auch an das Thema des 2. Jahreskongresses der KWG mit dem Titel Migration und Europa in kulturwissenschaftlicher Perspektive. Das Thema des ersten Workshops ist bewusst mehrschichtig aufgestellt, um die disziplinären Verortungen und die vielschichtigen Themen der Mitglieder aufzugreifen. Diese reichen u.a. von der Untersuchung von Städtepartnerschaften, Grenzen und Kartographien, Ritualen als Überlagerungen von Raum über mediale und inszenierte Räume bis hin zu einzelnen Räumlichkeiten (Synagogen, Ghettos etc.). Weitere Workshops können sich den Themen Raumidentitäten und Identitätsräume oder Raum – Identität – Narration widmen. Unter diesen Titeln ließen sich Ansätze und Fragestellungen verhandeln, die zeitlich sowohl eine geschichtliche Perspektive einnehmen als auch lokale Phänomene aus einer aktuellen Position präsentieren.

Die Stärke der Sektion Raum / Kultur besteht darin, dass sie sich aus Mitgliedern unterschiedlicher Disziplinen zusammensetzt, die alle gleichermaßen zur Realisierung der Ziele der Sektion beitragen. Zurzeit sind die beteiligten Disziplinen (in alphabetischer Reihenfolge): Amerikanistik, Anthropologie, Architektur(geschichte), Germanistik, Kunstgeschichte, Landschaftsplanung, Literaturwissenschaften, Medienwissenschaften, Psychologie und Psychoanalyse, Raumwissenschaften inkl. Geographie, Stadt- und Regionalforschung, (Stadt-) Soziologie und die Theaterwissenschaft. Diese Disziplinen haben ihre eigenständigen und unterschiedlichen Perspektiven auf kulturwissenschaftliche Projekte / Konzepte. Diese Perspektiven sollen für ausgewählte Projekte / Konzepte im Vergleich ausformuliert werden, um dadurch interdisziplinär-kulturwissenschaftliche Zugänge zu erkennen und zu ermöglichen. Dazu dienen sowohl die Workshops und die Jahreskongresse der KWG als auch Publikationsprojekte oder eigene Tagungen der Sektion.

Adressaten:

Neben der Ansprache von an Raumtheorie und Raumpraktiken interessierten Wis- senschaftlerInnen verschiedener Disziplinen möchten wir insbesondere Nach- wuchswissenschaftlerInnen eine Plattform bieten, sich und ihre Forschungen transdisziplinär und statusübergreifend zu präsentieren. Dies kann besonders in den Arbeitsformaten Workshop oder Summerschool geleistet werden, die die regelmäßige Sektionsarbeit im Rahmen von Tagungen und Publikationen ergänzen und mit neuen Impulsen versehen.

Verantwortliche für die Sektion (in alphabethischer Reihenfolge):

  • Eric Erbacher (eric.erbacher@wwu.de) American Studies, WWU Münster
  • Prof. Dr. Volker Kirchberg (kirchberg@uni.leuphana.de), Professor für Soziologie der Künste, Institut für Soziologie und Kulturorganisation, Leuphana Universität Lüneburg
  • Prof. Dr. Martin Nies (Martin.Nies@uni-passau.de), Lehrbeauftragter am Institut für Sprache, Literatur und Medien der Europa-Universität Flensburg und am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft der Universität Passau
  • Lil Helle Thomas (lilhelle.thomas@uni-saarland.de) Historisch orientierte Kultur-wissenschaften, Universität des Saarlandes

Kontakt:

An einer Mitarbeit Interessierte sind gebeten, sich zu wenden an:

eric.erbacher@wwu.de
lilhelle.thomas@uni-saarland.de

redaktion@kultursemiotik.com