Das semiotische Paradigma

Das semiotische Paradigma als Grundlage des VZKF

Das besondere Merkmal des Virtuellen Zentrums für kultursemiotische Forschung ist die semiotische, d. h. zeichentheoretische Ausrichtung. Alle Kommunikation vollzieht sich mittels kulturell produzierter sprachlicher und schriftlicher oder audiovisueller, musikalischer, ikonischer usw. Zeichen, die in historisch und kulturell variablen Zeichensystemen organisiert sind (bspw. die natürlichen Sprachen, kinematographische Kodes usw.). Die Semiotik als allgemeine Wissenschaft von der Kommunikation mittels Zeichen liefert damit medienübergreifende Grundlagen für die Analyse von Textbedeutungen in Alltagskommunikation, Literatur, Film, Fotografie, Malerei, Comic, Architektur, Ausstellung, Theater- und Opernaufführung, Popmusik, Werbung, Produktzeichen, Computerspiel, neuen Medien usf. Zugleich ermöglicht es der semiotische Ansatz, am konkreten Medienprodukt auch die medien- und textsortenspezifischen Besonderheiten zu berücksichtigen und die medienspezifische Gemachtheit kultureller Kommunikation zu untersuchen.

Literatur, Medien und die sie formierenden Texte können kultursemiotisch als ‚Semiosphäre’, als durch Medien und ihre Texte kommunikativ gebildeter kultureller ‚Raum‘ aufgefasst werden, in dem Texte unterschiedlichster medialer Provenienz auf ganz eigene Weise kulturelles Wissen und Denken, kulturspezifische Probleme und Lösungsvorschläge, historische Konzeptionen von Welt und Wirklichkeit, variable Vorstellungen vom Menschen im Allgemeinen und der Person im Besonderen, von epochentypischen Haltungen, Einstellungen und Mentalitäten modellieren und überhaupt erst verhandelbar machen.

 

Literatur und Medien als sekundär Modell bildende Zeichensysteme der Kultur

Insbesondere in den Medien erbringen Gesellschaften einen genuinen Beitrag zu ihrem eigenen identitären Selbstverständnis. Es sind die Medien und damit die sie formierenden Texte im historischen Wandel, die kulturelle Komplexität sinnhaft reduzieren und zu historisch typischen Modellen von Welt verdichten und in sich epochentypisch abbilden können.

Ein Gedicht, ein Drama, ein Roman, aber auch ein Bild, ein Film, ein Musikvideo, eine Fernsehshow, ein Song oder ein Computerspiel bedienen sich je nach den an ihnen beteiligten Informationskanälen verschiedener primärer sprachlicher, schriftlicher, visueller oder auditiver Zeichensysteme. Diese primären Zeichensysteme sind dabei deshalb primäre Modell bildende Zeichensysteme, weil sie ihrerseits schon erste Modellbildungen von Realität vornehmen. Beispielsweise muss in der Sprache ein Begriff für etwas überhaupt vorhanden sein, damit man darüber reden kann; etwas das abgebildet wird, muss auf der Grundlage von Wahrnehmungssemantiken überhaupt als eine in sich wohl strukturierte Größe in Sprache und damit in eine kulturelle Begrifflichkeit übersetzt werden können, damit es erkannt und verarbeitet werden kann. Künstlerische und mediale Texte bedienen sich nun nicht einfach nur der primären Zeichensysteme und ihrer primären Bedeutungen. Vielmehr produziert jeder mediale Text, der sich primärer Zeichensysteme bedient, mit diesen primären Zeichensystemen selbst neue sekundäre Zeichen, nämlich die spezifischen und konkreten Weltvorstellungen, die der Text individuell entwirft. Mittels der historisch zwar wandelbaren, epochal aber relativ stabilen primären Zeichensysteme entwerfen die Medien eine Fülle denkbarer sekundärer Modell bildender Weltentwürfe. Solche sekundären Modell bildenden Weltentwürfe können dabei mehr oder weniger authentifiziert sein (wie dokumentarische Formen) oder als fiktional (wie die Künste) markiert sein; sie können sowohl der Hoch- als auch der Populärkultur angehören und sie können theologische, ökonomische, soziale oder anthropologische Werte- und Normensysteme, mithin also Ideologien vermitteln.

Als sekundäre Modell bildende Zeichensysteme sind Weltentwürfe in der Literatur und den anderen Medien Formen kultureller Selbstreproduktion, in denen sich eine Kultur über sich selbst verständigt und kulturell relevante Werte und Normen einüben, bestätigen oder verwerfen kann. In welchem Umfang welches kulturelle Wissen in welchem Medium kulturraumspezifisch verarbeitet wird, ist Gegenstandsbereich und eine der zentralen Fragestellungen des VZKF.

 

Gegenstandsbereiche und Methodik der Literatur-, Medien- und Kultursemiotik

Konkrete literarische, audiovisuelle usw. ‚Texte‘ in unterschiedlichen Medien sind ein Ausgangspunkt, um systematisch kulturspezifische Bedeutungskonstrukte zu untersuchen und diese in übergreifenden kulturellen, denkgeschichtlichen und medialen historischen Zusammenhängen zu verorten.

Besondere Berücksichtigung finden hierbei narratologische, also erzähltheoretische Ansätze, sowohl medienübergreifend zur Untersuchung der Raumsemantik in Literatur und Film als auch medien- und gattungsspezifisch die Analyse von Erzählmodellen, Erzählstilen und Darstellungsmodi in der Literatur, in Film und Fernsehen, Fotografie, in der Oper und Popmusik, in der Werbung, im Computerspiel und in den neuen Medien.

Neben der Methodologie einer medienübergreifenden Textanalyse orientiert sich die Literatur- und Mediensemiotik aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive an historischen Beispielen, die Literatur, Film, Fernsehen, neue Medien u.a. in ihrer Abhängigkeit zu kultur- und denkgeschichtlichen Kontexten in den Mittelpunkt rückt. Außerdem bezieht sie relevante Phänomene und Formate der internationalen Mediengeschichte in der Hoch- und Populärkultur mit ein. Aus einer kultursemiotischen Perspektive stehen dabei Fragen nach dem historischen und spezifischen Zusammenhang von semiotischen Systemen des Bedeutens und den ideologischen Systemen des Bedeuteten im Vordergrund, also auf welche Weise welche Textstrukturen in unterschiedlichen Medien welche kulturell relevanten Bedeutungen verarbeiten. Hier hat sich ein besonderer imagologischer, das heißt an medienübergreifenden Konzepten der Person und des Raums ausgerichteter, und mentalitätsgeschichtlicher Schwerpunkt ausgebildet. Analysiert werden anwendungsorientiert und empirisch am konkreten Medienprodukt nachvollziehbar verschiedene mediale Zeichensysteme und ihre kulturellen Funktionen in Literatur-, Denk- und Diskurssystemen, mit dem Ziel der systematischen Rekonstruktion von kulturellen und medialen Teilsystemen und ihrer Funktionsweisen. Damit möchte das VZKF auch für die Zukunft einen Beitrag zu der Frage nach unseren kulturellen Selbstverständnissen und deren historischer Herkunft leisten – und wie diese sich in den unterschiedlichsten Medien in der Vergangenheit und in der Gegenwart repräsentieren.

 

 

Weiterführende Literaturhinweise:

Dieter Mersch, „Semiotik und Grundlagen der Wissenschaft“ (Link). In: Theo Hug (Hg.), Einführung in die Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung, Bd. 4, Hohengehren 2001, S. 323 – 338.

Martin Nies, „Kultursemiotik“. In: Christoph Barmeyer, Petia Genkova, Jörg Scheffer (Hgg.), Interkulturelle Kommunikation und Kulturwissenschaft: Grundbegriffe, Wissenschaftsdisziplinen, Kulturräume. Passau, zweite Aufl. 2011, S. 207-225.